Demokratisches Zuhören

Demokratisches Zuhören

Die Gewährleistung von Meinungsfreiheit wird als wesentlicher Bestandteil einer Demokratie verstanden. Allerdings ist die Äußerung einer Meinung nur ein Teil des Kommunikationsprozesses. Auf der anderen Seite steht das “demokratische Zuhören”. Es erscheint offensichtlich, dass das Zuhören sowohl unter Bürgerinnen und Bürgern als auch zwischen jenen und ihren Vertreterinnen und Vertretern, in unserem Alltagsleben stark durch die Präsenz der digitalen Medien und insbesondere durch soziale Netzwerke geprägt ist. Diese Netzwerke stehen häufig in der Kritik, nicht ausreichend gegen politische Polarisierung vorzugehen. In der Tat haben die Betreiber dieser Plattformen eine gewisse Zurückhaltung bei der Eindämmung von Online-Polarisierung gezeigt. Hieraus kristallisiert sich ein klarer Forschungsbedarf zur Eindämmung schädlicher Polarisierung und zur Demonstration der Machbarkeit von Depolarisierungsinitiativen. 

Demokratisches Zuhören kann als Begegnung und konstruktive Auseinandersetzung mit Äußerungen anderer definiert werden. Dies beruht auf der allgemeinen Bereitschaft, sich ernsthaft mit anderen Perspektiven auseinanderzusetzen, insbesondere mit von eigenen Standpunkt abweichenden Meinungen und Ansichten. Im Idealfall ist demokratisches Zuhören ein dialogischer Prozess, bei dem das konstruktive Engagement einer Person mit der Perspektive einer anderen Person dazu führt, dass diese sich gehört fühlt (Scudder, 2021). Ein solcher dialogischer Prozess des Zuhörens ist jedoch keine Garantie für einen Konsens zwischen den Diskutierenden. Dennoch ist eine informierte Uneinigkeit (Wessler, 2008) wahrscheinlich, in der die Beteiligten besser verstehen, warum ihr Gegenüber anders denkt und fühlt, beziehungsweise was die Gründe dafür sein könnten. Es ist zudem möglich, dass die Diskutierenden einen teilweisen Konsens über spezifische Aspekte eines Themas erreichen.

Grundsätzlich ist demokratisches Zuhören ein „stiller“ Prozess, der jedoch in Online-Diskussionen durch verschiedene Arten von Posting- und Kommentierverhalten zum Ausdruck kommen kann. So können Diskutierende beispielsweise kurz signalisieren, dass sie zuhören (z.B. „Interessant, danke!“); sie können sich wesentlich mit einem anderen Kommentar auseinandersetzen, sei es zustimmend oder skeptisch; sie können sich explizit in die Lage eines anderen versetzen; oder sie können ausdrücklich signalisieren, dass sie sich gehört fühlen.

In Anbetracht des gegenwärtigen Status Quo von sozialen Netzwerken sollten Zuhörverhalten wie das hier Beschriebene explizit durch neue Plattformfunktionen gefördert werden, insbesondere durch eine auf Zuhören ausgerichtete Moderation von Diskussionen. Diskussionen sollten so strukturiert sein, dass sie für die beteiligten Parteien eine wechselseitig gewinnbringende Situation schaffen, anstatt den Charakter einer wettbewerbsorientierten Auseinandersetzung anzunehmen, die zwangsläufig mit einem Sieg oder einer Niederlage endet. Das Ziel sollte darin bestehen, die „moralische Empathielücke“ zwischen den starken Befürworterinnen und Befürwortern zweier gegensätzlicher Parteien oder Anliegen zu schließen und demokratisches Zuhören zu fördern.