|
Narrative und Storytelling
Narrative spielen eine große Rolle dabei, wie wir unser soziales Umfeld und unseren Platz darin verstehen. Zu solchen Narrativen gehören sowohl persönliche Erzählungen wie der gesellschaftliche Klatsch darüber, wer was mit wem macht, als auch die kollektiven Erzählungen darüber, was in der Welt vor sich geht. Einigen Studien zufolge verbringen wir 4 bis 6 Stunden pro Tag mit narrativem Denken (Gottschall, 2012). Die Geschichten, die wir erzählen und die uns bewegen, sind daher wahrscheinlich die Grundlage für unsere Einstellungen, Ziele und Handlungen.
In Erzählungen und Geschichten nehmen wir (als Publikum) an den Erfahrungen einiger Hauptfiguren teil. Die Emotionen und Perspektiven dieser Figuren werden oft zu unseren Emotionen und Perspektiven. Dieser Effekt des Mit-Erlebens (Breithaupt, 2023) kann durchaus positiv sein und zu besserem Verständnis und Empathie führen. Allerdings wohnt eben dieser positiven Kraft des narrativen Denkens auch eine Schattenseite inne, die zu Polarisierungen führt, gerade weil wir eine Perspektive teilen. Bei Konflikterzählungen und Geschichten mit unterschiedlichen Perspektiven neigt das Publikum dazu, die eine oder die andere Perspektive einzunehmen. Dann neigen die Menschen dazu, der von ihnen gewählten Seite zuzustimmen – allerdings auf Kosten der anderen Seite. Die andere Seite kann als böse dämonisiert werden oder zumindest in der Gültigkeit ihrer Position herabgestuft werden.
Um beobachten zu können, wie Menschen durch Narrative dazu gebracht werden, einen spezifischen Standpunkt einzunehmen und andere zu ignorieren, haben mein Team und ich den Prozess untersucht, den wir “spontane Parteinahme” (spontaneous side-taking) nennen. Die Kernfrage, die wir zu beantworten versuchen, ist, in welchem Maße eine “spontane Parteinahme” über die Zeit hinweg im Kopf der Menschen bestehen bleibt und zu andauernder Polarisierung führt. In diesem Forschungsbereich laufen derzeit mehrere Studien.
Unsere Pilot-Studie verdeutlicht, dass Menschen 1) rasch einen bestimmten Standpunkt einnehmen, wenn sie einer Konfliktdarstellung ausgesetzt sind, 2) an ihrem Standpunkt festhalten, selbst wenn sie zusätzliche Informationen erhalten, die konträr zu ihrem Standpunkt steht, 3) den Standpunkt ignorieren, der konträr zu ihrer Überzeugung steht.
Diese Abbildung zeigt, wie sich Leserinnen und Leser Details von zwei Charakteren in einer Geschichte merken (etwa ihre Kleider). In den Geschichten waren beide Charaktere je Verursachende und Empfängerinnen und Empfänger je der Hälfte der Aggressionen. Dennoch stuften die meisten Leserinnen und Leser je den einen Charakter als Opfer und den anderen als Aggressor ein. Als Folge dieser flexiblen Präferenzwahl erinnerten sich die Leserinnen und Leser dann besser an das „Opfer“, dem sie wahrscheinlich viel mehr Aufmerksamkeit schenkten, als an den „Aggressor“. Diese einseitige Erinnerung war eine Funktion ihrer bevorzugten Wahl und nicht der Geschichten, die durchaus ausgewogener waren (siehe Woodward, Hiskes, & Breithaupt 2024).
Dieser dritte Aspekt ist besonders überraschend, denn Menschen scheinen anderen Standpunkten nicht viel Aufmerksamkeit zu schenken, sobald sie sich einmal positioniert haben. In unserer Studie erinnerten sich die Teilnehmenden nicht an Details des konträren Standpunktes, behielten jedoch Details ihrer eigenen Positionierung (z. B. Kleidung) gut im Gedächtnis. Es ist deutlich, dass durch derartige narrative Parteinahme Polarisierungen entstehen und verfestigt werden können. Diese können, das ist anzunehmen, zu den schädlichen Effekten des Nicht-mehr-Zuhörens führen, die unser Gesamtprojekt untersucht. Nun stehen mögliche Interventionen gegen diese narrative Polarisierung im Mittelpunkt der Forschung.
Woodward, C., Hiskes, B. & Breithaupt, F. Spontaneous side-taking drives memory, empathy, and author attribution in conflict narratives. Discov Psychol 4, 52 (2024). https://doi.org/10.1007/s44202-024-00159-w